kuratiert von Lydia Thomas
6. Mai bis 4. Juni 2023
>>> ausführlicher Beitrag von Mathias Richter in der Märkischen Allgemeinen Zeitung als PDF
>>> Reportage vom teltOwkanal über die Offenen Ateliers Brandenburg auf YouTube
Texte von Burkhard Baltzer und Lydia Thomas am Ende dieser Seite!
Jana Mertens wurde 1983 in Gifhorn geboren, 2018 Arbeitsstipendium der Kunststiftung Sachsen Anhalt, 2017 Stipendium der Werkstatt Altena, 2016 Diplom der bildenden Künste Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle/Saale. Sie lebt und arbeitet in Leipzig.
janamertens.de
Thomas Ranft, geboren 1945 im thüringischen Königsee, studierte nach einer Lehre als Gärtner an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig und lebt seit 1972 in Chemnitz, wo er mit Carlfriedrich Claus, Dagmar Ranft-Schinke, Michael Morgner und Gregor-Torsten Schade (heute: Kozik) die Künstlergruppe und Produzentengalerie Clara Mosch gründete. Im Jahr 2003 erhielt Thomas Ranft den Hans Theo Richter-Preis der Sächsischen Akademie der Künste.
Mauersegler – Rede zur Eröffnung am 6.Mai 2023
Zwei Perspektiven, zwei Flugrouten: Jana Mertens und Thomas Ranft
Am 2. Mai diesen Jahres kamen bei mir zu Hause in Tübingen die Mauersegler an. Eine Woche verspätet. Dabei könnten wir seit jeher die Ankunft der schwalbenähnlichen Vögel vorneweg in den Kalender eintragen, so pünktlich taucht plötzlich der erste Schwarm kreischend vor unseren Fenstern auf. Wohl möglich lag die Verspätung an den Raketen über Israel und Palästina – doch abermals schienen sie kein bisschen müde vom langen Flug jenseits des Äquators über die Sahara und über die Alpen. Ein Wunder. Aber sie schlafen auch während des Fluges: Hektisch, scheinbar freudig fliegen sie umher, sie spähen nach Brutplätzen in hohen Gebäuden. Einst hinter der Mauer wurde gewitzelt „DDR: Schießbefehl trifft Mauersegler“. Zynismus: Denn schon zu Ulbrichts Zeiten gab es Bausätze für so genannte Segler-Modelle – und die Vögel wiederum schätzten die Spalten in DDR-Plattenbauten: die Nischen so etwas wie das gesuchte Zuhause.
Jetzt sind mit Jana Mertens und Thomas Ranft zwei Mauersegler hier in Kemlitz gelandet: Mertens, Jahrgang 1983 aus Gifhorn (oberhalb von Hannover) und der bald 80jährige Ranft – unterhalb von Kemlitz – aus Chemnitz. Freude dennoch, selbst wenn schon wieder Mauern gebaut werden.
Um grundsätzlich dagegenzuhalten, hat Jana Mertens auf meine Bitte hin ihre Mauersegler-Plastiken mitgebracht. Diese Plastiken versuchen erst gar nicht so auszusehen, als könnten sie pfeilschnell den Himmel durchqueren. Sie erinnern an Härte, die „Art brut“, an das Rohe und wenig Filigrane. An das Robuste. Sie tragen das Genetische ihrer Materialien vor sich her: Beton. Andernorts erkennen wir oft Spanplatten. Sperrmüll? – Nein. Jana Mertens hat einen ganz natürlichen Bezug zu Materialien, die sie findet und ohne kosmetische Tricks verarbeitet. Sie sagte mir, wenn sie sich nicht so gut fühle, dann arbeite sie an Gemälden, wenn sie sich stark fühle, dann sei es Zeit für ihre Plastiken.
Ich habe Jana als natürliche Persönlichkeit erlebt. Oft behauptend in Formen, Farben sowie Wesen, auch ironisch sind ihre Arbeiten; jedenfalls meist kraft- und phantasievoll. Zahlreiche Stipendien seit dem Studienabschluss in Halle bezeugen, dass sie mit ihrer Kunst Aufmerksamkeit weckt. Auffallend ist der Kontrast der Titel, das verniedlichende „i“ in den Titeln, was diabolisch wirkt, wenn wir die Panzer-Gruppe anschauen mit „Das Pappi“ oder „Didi“ – und dies in der ungeschminkt-brutalen Gegenwart. Sie wirken sympathisch, anziehend, dabei werden sie doch von grundbösen Befehlshabern in Bewegung gesetzt.
Jana Mertens hat bewusst bei Altmeistern im Osten Deutschlands studiert, die ihre bildnerische Kraft manifestieren mussten, und bei Lehren im Westen, die selbst grelle Farben und Lasuren benutzten, um Geschlossenheit, aber auch Divergenzen auszudrücken: Manifest wird das im Vergleich zwischen Arbeiten wie „Yellow Mellow“ und „Happy Nachtisch“. Das Fremde, das Ungewöhnliche ist erstaunenswert bei Jana Mertens. In einer meiner letzten Nächte vor der Ausstellung – Kunst sollte die Menschen über den Tag hinaus beschäftigen – kam ich auf den Begriff „bizarre Poesie“ für ihre plastischen Arbeiten. Das tagelange Nachdenken hatte sich gelohnt: Vergewissern Sie sich in dem geziegelten Raum in dieser Ausstellung: Sie werden von der „bizarren Poesie“ überzeugt sein, nicht nur von den „Mauerseglern“.
Ganz anders Thomas Ranft. Filigraner geht’s nimmer. Ich kenne seinen Namen seit meiner Studentenzeit. Vor Jahren habe ich ihn mal als „Anverwandler“ beschrieben: Er steigt auf wie ein Mauersegler – in eine Höhe, bis er die Welt zu überblicken scheint, und er legt dabei ungeheuerlich weite Strecken zurück, um sich gezielt hinabzustürzen. Er hat mal den Beruf des Gärtners erlernt. Vermutlich hat er dabei begriffen, wie man sich Übersicht verschafft.
So sind bei Ranft irre, jedoch treffende und umfangreiche Zyklen zu literarischen Werken entstanden; zu Hölderlins „Hyperion“, zu Rilke die „Allegorien“ oder zu Goethes „Faust II“ – hier erstmals komplett ausgestellt.
Es geht bei ihm aber nicht um einen großen Spaß, sondern stets um die Verbindung von Lust und Herausforderung. Ich habe das vor zehn Jahren detailliert verfolgen können: Damals hatten wir – meine Frau Helge Noack, eine Kollegin, Ranft und ich – eine Ausstellung zu „Hyperion“ für Tübingens Hölderlinturm beschlossen. Unsere Freundin Valérie Lawitschka war federführend. Eines war uns bei dem Beschluss nicht klar: Ranft wusste wenig Tiefgehendes über Hölderlin. Der war für ihn ein fernes Land, ein Schulstoff, so weit entfernt wie für die Mauersegler Details der Strecke zwischen dem Äquator und Nord-Europa, die sie jedes Jahr zurücklegen.
Thomas schlief – GOTT SEI DANK – nicht bei der langen Rückfahrt von Tübingen nach Chemnitz. Er hörte stattdessen im Autoradio die wunderbar von Christian Brückner eingelesenen CDs von Hölderlins „Hyperion“. Ich weiß nicht, wer außer mir das Glück hatte, Ranfts Reise-Gedanken und Arbeits-Etappen zu Goethes „Faust II“ zu verfolgen. Jedenfalls bekam ich nach seiner Ankunft in Chemnitz fast täglich Entwürfe und An- und Probedrucke des „Hyperion“-Zyklus. Er hatte sich während seiner langen Reise von Tübingen nach Chemnitz in eine ferne, fremde Landschaft versetzt, die ihm zunehmend existenziell etwas bedeutete. Die Landschaften, die Radierungen waren vielschichtig, weil er auch Drucke auf transparentem Papier übereinandergelegt hatte.
– Das eine sind die großen Namen und Zyklen – und doch wählt er dafür kleinste poetischste Formate aus. Die Formate der „Malgroßgrundbesitzer“ interessieren ihn nicht, eher mikrokosmische Blättchen. Diese sind oft geistig versponnen. Ranft ist für mich einer der diffizilsten, poetischsten und hintergründigsten Künstler Deutschlands. Und er ist ein Mauersegler im wahrsten Sinn des Wortes: Er war bei Marc Chagall, er war im Ostblock unterwegs, er hat Klaus Staeck gewonnen usw. – er hat die Mauer zwischen Deutschland Ost und West übersegelt, und er hat die Künstlergruppe Clara Mosch mit den Kolleginnen und Kollegen Freunden wie Carlfriedrich Claus, Michael Morgner und Dagmar Ranft-Schinke mitbegründet und maßgeblich inspiriert. Die Pleinairs der Mosch-Gruppe sind kunstgeschichtlich Legende. Ich hoffe, dass sein Werk und sein Wirken im Rahmen der Kulturhauptstadt Chemnitz die Menschen bezaubert und nicht der Kultur-Kitsch. Letztlich wählte ich für meinen Artikel in einer Jenaer Kulturzeitschrift den Titel „Chemnitz war schon mal die Welt“.
In seinem jüngsten Brief an mich lag die Radierung „Zwei Welten“ aus dem „Faust II“ dabei: Zwei sich überschneidende blaue Scheiben. Ein Sinnbild für einen literarischen Klops schwersten Gewichts, 60 Jahre Goethes stecken darin, eine „Reise durch die große Welt“. Ranft, der unermüdliche Drucker, steht vor seinen Pressen und denkt sich, was denn da im Zweifelsfall die Platten hergeben, die er druckt: stumm, ahnungsvoll, vielleicht manchmal unsicher… Ich erinnere mich an seine Hölderlin-Blätter und bange mit ihm. Für seine Bescheidenheit und vielleicht Unsicherheit spricht, dass er zuletzt die Rückseiten der Platten bearbeitet hat: Erstmals zu sehen sind in dieser Ausstellung „pars aversa“ – „Rückseiten“. Wir halten den Atem an. „Pars aversa“: Schon seit mehr als 500 Jahren starren Drucker auf ihre Stöcke und Platten, bis sie die Abzüge begutachten können. Ranft schätzt, seine eigenen Vorstellungen werden zu 80 Prozent getroffen. Manchmal kitschig. Das Starren auf die Rückseiten weckte sein grafisches Interesse und seine Phantasien. Die Idee wuchs, die Rückseiten weiter zu bearbeiten. Sehen Sie selbst…
Burkhard Baltzer, Mai 2023
Concept of Curation
Als ich von Kerstin Seltmann und Florian Merkel darum gebeten wurde, eine der nächsten Ausstellungen im Kemlitzer Kunstverein zu kuratieren, freute ich mich sehr. Mir war sofort klar, wie ich bei der Auswahl der Beteiligten vorgehen würde. Selbstverständlich musste ich von der Qualität der Arbeiten der Künstlerin und des Künstlers grundlegend überzeugt sein. Zum anderen war es mir wichtig, dass sich jüngere und ältere Künstler gegenseitig supporten, angelehnt an das seit Jahrzehnten gängige Profil der Chemnitzer Galerie Weise, in welcher die Arbeiten von Jana Mertens und Thomas Ranft zum festen Ausstellungsrepertoire gehören. Arbeiten der noch jungen jedoch bereits sehr präsenten und bekannten Künstlerin Jana Mertens in den Kontext zu Arbeiten eines bekannten Künstlers, einer Legende ostdeutscher Kunst, zu stellen, war mein Anliegen. Thomas Ranft ist, als Grafiker und Hauptorganisator, Mitglied der Künstlergruppe CLARA MOSCH, einer der wohl wichtigsten nationalen, vielleicht sogar internationalen Künstlergruppen. In jedem Falle wollte ich es krachen lassen.
Komplette Dimensionsunterschiede kennzeichnen die in der Ausstellung vereinten Arbeiten. Dazwischen liegen Welten, trotzdem haben beide, Thomas Ranft wie auch Jana Mertens, eine ähnliche Formensprache. Beider Arbeiten erinnern mich u.a. an die Idee von Science Fiction, wie ich sie aus der Literatur meiner Jugendzeit kenne. Ranft liebt Romane von Stanislaw Lem. Frühe Radierungen von ihm, während des Studiums und kurz danach entstanden, belegen das. Die damals entwickelte Bildsprache lässt sich meines Erachtens noch heute in seinem späteren Werk entdecken. Die Skulpturen beziehungsweise Plastiken von Jana Mertens sind hybride Wesen, welche mich an mysteriöse bionische heroische Gestalten erinnern. Biotechnische Elemente finde ich in ihren figürlichen Arbeiten, welche wie Fabelwesen wirken. Thomas Ranfts wie auch Jana Mertens Arbeiten sind feingliedrig und surreal, ausdruckstark und gefühlvoll. Die Arbeiten beider, die sich noch nicht persönlich kennenlernten, korrespondieren miteinander. Auf wundersame Weise.
Lydia Thomas / April 2023
galerie-weise.de